Der Zusammenhang zwischen dem Wettrüsten und dem Ausbruch eines Krieges wurde schon oft vermutet und untersucht. Auch Michael D. Intriligator und Dagobert L. Brito behandeln diese Frage2 in einem System von zwei nuklearen Mächten.
Anders als Richardson behaupten sie aber, daß ein unbeschränkter Rüstungswettlauf nicht gleichbedeutend mit Krieg ist. In anderen Fällen ist einseitiges Abrüsten sogar verantwortlich für den Ausbruch einer blutigen Auseinandersetzung. Die Annahmen für das Modell sind einfach: Es existieren zwei Großmächte, die sich beide einer einzigen Waffengattung bedienen, nämlich eines Raketengeschoßes. Auf diese Weise läßt sich der Rüstungswettlauf sehr schön graphisch darstellen, als Trajektorien in der sogenannten "Waffenebene". Seien ma(t) und mb(t) die Anzahl der Fernlenkwaffen der Staaten A und B, und die Ereignisse der Rüstung können über einem Intervall [0, t1] durch eine Trajektorie (ma(t), mb(t)) in der Ebene (ma, mb) beschrieben werden.
Das Modell besteht aus vier linearen Differentialgleichungen mit ihren Anfangsbedingungen. Die Variablen sind die beidseitigen Mengen von Raketen, ma(t) und mb(t), und die Anzahl der Opfer auf beiden Seiten, ca(t) und cb(t)3.
(2.1) |
(2.2) |
(2.3) |
(2.4) |
Zum Zeitpunkt 0 besitzt A ma0 Raketen, B hat mb0 Stück. Vor dem Ausbruch des Krieges gibt es auf beiden Seiten noch keine Todesopfer zu beklagen. Die erste Nation startet ihre Raketen mit der Rate a(t), also a×ma Raketen in der ersten Gleichung.
Ebenso heißt -b×mb in der zweiten Gleichung, daß B mit einer Rate b(t) seine Geschoße startet. Die Fernlenkwaffen können entweder auf feindliche Raketen oder auf feindliche Städte gerichtet werden. Die Proportion a'(t) ist jener Anteil der a×ma Waffen, der auf die Waffen des Feindes abgeschossen wird. Daher werden (1-a')×a×ma Raketen auf B's Städte abgeschickt. Von all diesen gestarteten Raketen trifft nur ein Teil sein Ziel und zerstört es. Die Effektivität der auf feindliche Rakten gerichteten Fernlenkwaffen ist fa(t). Daher ist die Anzahl der von A zerstörten Waffen von B a'×a×fa×ma. Ebenso treffen auch nicht alle Raketen mit zivilen Zielen ins Schwarze, ihre Effektivität ist va(t) und wirkt sich für die Anzahl der Opfer durch den Ausdruck (1-a')×a×va×ma aus.
Entsprechendes gilt auch für das Land B und seine strategischen Entscheidungen, b und b', und seine technischen Möglichkeiten fb und vb.
Das Problem der Kriegsführung der beiden Staaten ist zurückgeführt auf die Wahl geeigneter Strategien. Sie wählen eine geeignete Abschußrate, a oder b, und eine Zielstrategie, ausgedrückt durch die Werte von a' und b'. Die Abschußrate a des Staates A bewegt sich zwischen 0 und einer maximalen Rate , die von den technischen Voraussetzungen der Waffen abhängt. Die Strategie der Zielwahl im Parameter a' liegt zwischen den Werten 0 und 1, wobei a' = 1 reinen Raketenabschuß und a' = 0 reine zivile Ziele bedeutet.
Über die relativ kurzen Zeiträume eines angenommenen nuklearen Krieges werden die Koeffizienten fa, fb, va und vb als konstant bleibend angenommen.
Nach den Theorien des französischen Generals Beaufre4 nehmen wir nun an, daß nur reine Strategien gewählt werden, die strategischen Variablen also nur einen ihrer Randwerte annehmen. Beaufre argumentiert folgendermaßen: Zunächst ist es sinnvoll, mit allen zur Verfügung stehenden Kräften loszuschießen, die Abschußrate also konstant als den größtmöglichen Wert zu wählen; denn dadurch erreicht der kriegführende Staat am schnellsten einen strategischen Vorteil. Es ist zweckmäßig, vor allem die Waffen der Gegner auszuschalten; andererseits ist der Beschuß von feindlichen Städten ein geeignetes Mittel, selbst Angst zu verbreiten. Damit hat A rein mathematisch gesehen vier Grundstrategien zur Auswahl:
Der Staat A kann sich also unter diesen Grundstrategien eine aussuchen und sie anwenden. Eventuell kann er auch mehrere davon verwenden und im Laufe der Zeit die Werte von a und a' verändern. Wenn A seine Strategien optimal wählt, dann läuft der Krieg in drei Stufen ab: A startet den Krieg mit der Erstschlagsstrategie, a = und a' = 1, und endet mit der Strategie des Nervenkrieges, a = 0 und a' = 0. Dazwischen liegt eine Phase, in der entweder die Strategie der massiven Vergeltung, a = und a' = 0, oder des beschränkten strategischen Krieges, a = 0 und a' = 1, verfolgt werden. Im ersten Fall wird zuerst der Wert für die Zielstrategie a' verändert, dann erst die Abschußrate, das ist der interessante Fall; im zweiten Fall ist es umgekehrt. In jedem Fall beginnt A damit, die Waffen seiner Feinde von vornherein zu dezimieren, und es endet damit, daß A die feindlichen Städte bedroht und sozusagen als Geiseln hält. Damit setzt es sich selbst in die beste Position für Verhandlungen am Ende des Krieges. Diese Strategie schlägt General Beaufre vor, weil dadurch die Gefahr eines feindlichen Vergeltungsschlages reduziert wird. Der Gegner wird zuerst seiner Waffen beraubt und verliert somit seine Gefährlichkeit. Es ist das kleinere Risiko, einem Feind mit derart dezimierten Waffenbeständen entgegenzutreten. Ein Angriff ohne diese Strategie wäre Selbstmord.
Das vorgestellte Modell ist nicht das Modell eines wirklichen, sondern eines möglichen Krieges, der jederzeit ausbrechen könnte. Es ist also nicht die Beschreibung wirklicher Raketetengeschoße, Opfer oder Strategien, sondern die Beschreibung eines Planes für einen Krieg mit erwarteten Raketen, Opfern und Strategien, die als mögliche Situationen vorausgesehen werden können. Es beschreibt keine Wirklichkeit, sondern eine Simulation.
Ein militärischer Planer des Landes B kann das Modell verwenden, um verschiedene Kriegsituationen zu simulieren. Aus seiner Sicht gibt es zwei besondere Möglichkeiten.
Erstens, das feindliche Land A greift B an. B simuliert einen Angriff von A und seine eigene Vergeltung. In diesem Fall möchte der Planer genügend Raketen zur Verfügung haben, um A mit der Aussicht auf zu viele mögliche Verluste im Gegenschlag abzuschrecken. Im zweiten Fall plant B selbst einen Angriff auf A und möchte genügend feindliche Raketen gleich zu Beginn zerstören, um die Gefahr eines Vergeltungsschlages auszuschließen. Es berechnet, wie viele eigene Raketen es benötigt, um die Auseinandersetzung erfolgreich zu beenden.
Im ersten Fall ist B der "Abschrecker"5 und nimmt an, daß A mit einer Erstschlagsstrategie beginnen würde, a = und a' = 1, und zwar in dem Zeitraum [0, t1], bevor B reagieren kann. Dann antwortet B mit der Strategie der massiven Vergeltung, b = und b' = 0 und verursacht auf der Seite von A zahlreiche Opfer während der "Vergeltungszeit" [t1, t1+t2]. In der Übersicht sieht das so aus:
Damit vereinfachen sich die Differentialgleichungen auf folgende Gestalt für die beiden Intervalle [0, t1] sowie [t1, t1+t2].
Im ersten Intervall lauten die Gleichungen:
(2.5) |
(2.6) |
(2.7) |
(2.8) |
Im Intervall [t1, t1+t2] ändern sich die Gleichungen:
(2.9) |
(2.10) |
(2.11) |
(2.12) |
Das erste System läßt sich leicht lösen, und die Werte zum Zeitpunkt t1 werden als Anfangswerte für das zweite System eingesetzt. Damit ergeben sich die Lösungen für die vier Variablen.
(2.13) |
(2.14) |
(2.15) |
(2.16) |
Am Ende des Vergeltungsintervalls muß A mit einer gewissen Anzahl an eigenen Opfern rechnen.
(2.17) |
Wenn die Zahl der zu erwartenden Opfer zu groß für die Verantwortlichen von A ist, dann schreckt B mit seinen Waffen A ab. "Zu groß" heißt hier "größer als ein gerade noch zulässiger Wert" und läßt sich als Ungleichung schreiben.
(2.18) |
Der Wert ist die minimale inakzeptable Anzahl an Opfern des Staates A.
Damit läßt sich angeben, welche Anzahl an Waffen der Staat B besitzen muß, um den Staat A von seinem Angriffsplan abzuschrecken.
(2.19) |
(2.20) |
Geometrisch ist diese Ungleichung das Gebiet oberhalb der Geraden in der Waffenebene (ma0, mb0) mit dem Anstieg und dem Schnitt mit der mb-Achse bei . Die Punkte (ma0, mb0) innerhalb dieses Gebietes sind all jene Konstellationen von Waffenbesitz, in denen A von B abgeschreckt wird.
Im zweiten Fall plant das zweite Land, das erste anzugreifen. Mit seiner Erstschlagsstrategie kann es zunächst einige feindliche Raketengeschoße unbrauchbar machen, muß dann aber mit der Vergeltungsstrategie des Feindes rechnen. Die Werte der entsprechenden Koeffizienten sehen tabellarisch aus wie folgt:
Das neue Gleichungssystem erhält eine zum obigen symmetrische Gestalt.
(2.21) |
(2.22) |
(2.23) |
(2.24) |
und weiters
(2.25) |
(2.26) |
(2.27) |
(2.28) |
Die Lösungen des Systems am Ende des ersten Zeitintervalls geben die Anfangsbedingungen für die Lösungen im zweiten Intervall.
(2.29) |
(2.30) |
(2.31) |
(2.32) |
Der potentielle Angreifer B kann nun die berechnete Anzahl an Todesopfern mit einem von ihm festgesetzten Wert, der maximalen akzeptablen Anzahl an Opfern, vergleichen und sich daraufhin für oder gegen einen Angriff entscheiden.
(2.33) |
(2.34) |
Wie groß muß also die Anzahl der Raketen von B sein, damit sein Angriff sicher erfolgen kann?
(2.35) |
In der Waffenebene wird durch diese Ungleichung ein Gebiet dargestellt, das über der Geraden mit dem Anstieg und dem Schnittpunkt mit der mb0-Achse liegt.
Wenn die Vorräte an Waffen in beiden Ländern in diesem Gebiet liegen, dann kann B gefahrlos angreifen, es hat genügend Waffen gelagert.
Ähnliche Überlegungen machen auch die Planer des Staates A. Auch sie bestimmen für sich die beiden Werte , die minimale inakzeptable Anzahl an Opfern für den Fall, daß sie angegriffen werden, und ca', die maximale akzeptable Anzahl an Opfern für den Fall, daß sie selbst anzugreifen gedenken. Auf diese Weise ergeben sich auch Ungleichungen für die Mindestanzahl an verfügbaren Waffen.
(2.36) |
Das Gebiet der Waffenebene, in dem A einen möglichen Angreifer abschreckt, befindet sich rechts von der Geraden mit dem Anstieg .
Im Fall, daß es selbst angreifen will, braucht A eine Mindestzahl an Raktengeschoßen, mindestens jedoch so viele, als im Verhältnis zu seinem Gegner auf der Gerade mit dem Anstieg liegen.
(2.37) |
Die Ungleichung bezeichnet das Gebiet rechts von dieser Geraden.
Im vorigen Kapitel stellte ich rechnerisch die Bedingungen für einen möglichen Angriff oder die Abschreckung eines jeden Staates vor. In der Abbildung 2.3 möchte ich die entsprechenden Ungleichungen graphisch veranschaulichen. Die erste Ungleichung (2.20) beschreibt das Gebiet oberhalb der der Geraden "B schreckt ab" und ist jene Menge von Punkten (ma0, mb0) der Waffenebene, in der A den feindlichen Staat B nicht angreifen würde. Ebenso gibt es eine Gerade "A schreckt ab", und rechts von ihr sind jene Kombinationen von Waffenmengen, die B von einem Angriff abhalten. Beschrieben wird dieses Gebiet durch die Ungleichung (2.36). Die beiden Gebiete schneiden einander und bilden so ein Gebiet der gegenseitigen Abschreckung. Bemerkenswert an diesem Gebiet ist, daß es nach oben unbeschränkt ist und seine ma0- bzw. mb0-Werte größer als ein bestimmtes Minimum sind. Damit stellen Intriligator und Brito die interessante Hypothese auf, daß ein Rüstungswettlauf allein nicht zu einem Krieg führt, sondern im Gegenteil durch die gegenseitige Abschreckung den Frieden sichert, solange ein gewisses Gleichgewicht der Waffenmengen gewahrt bleibt. Wenn der Rüstungswettlauf im Gebiet der gegenseitigen Abschreckung beginnt und beide Seiten gleichmäßig weiterrüsten, so bleibt die dazugehörige Trajektorie in diesem Gebiet und der Friede bewahrt.
Andererseits gibt es auch Ungleichungen, die einen Angriff provozieren. Oberhalb der Geraden "B greift an" ist das Verhältnis der Bewaffnung für B so günstig, daß es mit geringen Verlusten rechnen kann. Die Ungleichung (2.35) beschreibt dieses Gebiet. Für den Staat A gibt es die entsprechende Ungleichung (2.37), die das Gebiet rechts von der Geraden "A greift an" beschreibt. Auch diese beiden Gebiete schneiden einander, und zwar in einem Gebiet um den Ursprung. In diesem ist die internationale Lage besonders instabil. Beide Staaten fühlen sich stark genug, den anderen anzugreifen. Unter diesen Umständen muß es fast zwanghaft zu einer Auseinandersetzung kommen. Beide Staaten versuchen nämlich, mit einem Erstschlag dem anderen zuvorzukommen und damit die bessere Position zu erreichen.
Abbildung 2.3 Waffenebene mit den Gebieten des Angriffs und der Abschreckung
Das Gebiet, das den Kriegsausbruch beschreibt, ist allerdings noch größer. Es ist jene sägezahnartige markierte Zone um den Ursprung, in der kein Staat den anderen abschreckt, aber entweder der eine oder der andere oder beide sich überlegen und bereit zum Angriff fühlen. Im Teilgebiet links oben ist B der Angreifer; A ist nicht stark genug, selbst anzugreifen oder auch nur sich genügend zu verteidigen. Rechts unten ist jenes Teilgebiet, in dem A stark genug zum Angriff ist, B aber zu schwach zur Verteidigung ist und erst recht zu schwach zu einer eigenen Attacke. Wenn die Parameter für die beiden Staaten gleich sind, also zum Beispiel , fa = fb, ca' = cb' und so weiter, dann ist die Gerade "A greift an" parallel zur Geraden "B schreckt ab" und auch die Gerade "B greift an" ist parallel zu "A schreckt ab". Die Darstellung in der Waffenebene ist symmetrisch bezüglich der ersten Mediane. Der Schnittpunkt der Geraden der Abschreckung ist der unterste und am weitesten links liegende Punkt des Gebietes der gegenseitigen Abschreckung. Dieser Punkt D = (mad, mbd) beschreibt die Mindestanzahlen an Raketengeschoßen der beiden Staaten, die sie gegenseitig abschrecken. Der Punkt I = (mai, mbi) ist das Paar von Höchstanzahlen von Raketen, die beide Staaten zu einem Angriff verleiten.
Ein numerisches Beispiel sei folgende Lage:
Die Wahrscheinlichkeit, eine feindliche Rakete zu zerstören, sei fa = fb = ½. Jede Rakete bringt dem Feind Verluste in der Höhe von einer Viertelmillion Opfer, va = vb = 250 000. Die maximale Feuerrate sei 10% pro Minute, also ist a = b = 0,1. Die Dauer der Zeit, die der Angegriffe braucht, um zu reagieren, beträgt fünfzehn Minuten, die Dauer des Vergeltungsschlages sei zehn Minuten. Die minimale inakzeptable Anzahl an Opfern setzen die Staaten mit vierzig Millionen fest ( = = 40 000 000), die maximale akzeptable Anzahl an Opfern mit fünf Millionen (ca' = cb' = 5 000 000).
Aus den bekannten Ungleichungen (2.20) und (2.36) lassen sich Gleichungen machen, die die Geraden der Abschreckung beschreiben. Der Schnittpunkt D dieser Geraden wird durch Auflösung des algebraischen Gleichungssystems bestimmt. Somit ergeben sich als Koordinaten:
(2.38) |
Der numerische Wert für die abschreckende Mindestzahl an Raketen beträgt daher 414 Stück auf jeder Seite.
Den Punkt I errechnen wir durch den Schnitt der Geraden, die wir aus den Ungleichungen (2.35) und (2.37) erhalten.
(2.39) |
Der numerische Wert für die Höchstzahl an Raketen, die zum Angriff verlockt, ist daher 52.
Mit HYBSYS werden die Differentialgleichungen (2.5) - (2.12) simuliert und der Verlauf eines Schlagaustausches dargestellt. Ich möchte hier nur den Fall A als Angreifer behandeln, denn wenn B angreift, sind die Gleichungen symmetrisch.
MODEL INTRILIGATOR-BRITO
|
| MODELLPARAMETER
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| ANFANGSWAFFENPOTENTIAL MA0, MB0
| ANFANGSANZAHL DER VERLUSTE CA0, CB0
| ABSCHUSSRATEN A, B
| TREFFSICHERHEIT (FEINDLICHE RAKETEN) FA
| TREFFSICHERHEIT (FEINDLICHE STAEDTE) VA, VB
|
PAR MA0=100,MB0=100,CA0=0,CB0=0,A=0.2,B=0.4,FA=0.5,VA=1000,VB=500
|
| MODELLVARIABLE
|
| WAFFENPOTENTIAL MA, MB
| VERLUSTE CA, CB
| STRATEGIEVARIABLE A1, AINVERS
| HILFSVARIABLE AMULT, BMULT, MAMULT, MBMULT
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VAR MA,MB,CA,CB,AMULT,BMULT,MBMULT,MAMULT,AINVERS,A1
|
| FUNKTION, DIE DAS UMSCHALTEN DER STRATEGIEVARIABLEN
| BEWIRKT
|
FUN REAL: AS(REAL)=(0,4.999,5,10;1,1,0,0)
|
EQU
|
| GLEICHUNGEN
|
| BELEGEN DER STRATEGIEVARIABLEN
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A1=RFUN1(AS,T)
AINVERS=SUM(1,-A1)
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| HILFSMULTIPLIKATIONEN
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AMULT=MULT(A´A1,FA´MA)
BMULT=MULT(AINVERS,B´MB)
MAMULT=MULT(A´AINVERS,VA´MA)
MBMULT=MULT(B´AINVERS,VB´MB)
|
| DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
|
MA=INTEG(MA0,-A´MA)
MB=INTEG(MB0,-AMULT,-BMULT)
CA=INTEG(CA0,MBMULT)
CB=INTEG(CB0,MAMULT)
|
END
|
TEND=10
|
END
Dieses HYBSYS-Modell liefert die Kurven, die bei einem kurzen atomaren Krieg entstehen. Die Abbildung 2.4 zeigt typische Vertreter dieser Kurven. Deutlich ist der Umschaltzeitpunkt t1 zu erkennen; dort hat die Kurve mb(t) einen Knick und die Verlustkurven ca(t) und cb(t) beginnen von 0 an zu steigen. Wir erkennen eindeutig die Struktur der Kurven. A greift an und schießt seine Raketen ma(t) mit der Rate während des ganzen Intervalls [0, t1 + t2], wodurch die Exponentialfunktion mit dem negativen Exponenten entsteht. Das Waffenpotential mb(t) des Staates B wird zunächst durch den Beschuß von A vermindert; ab dem Zeitpunkt t1 schießt B auf die feindlichen Städte mit der Rate , und wir sehen wieder die typische Exponentialfunktion. Die Zivilbevölkerung von B ist ab diesem Zeitpunkt ebenfalls betroffen, und so wachsen die Verluste stark an, wobei genauso Exponentialfunktionen beteiligt sind, wie wir aus (2.15) und (2.16) wissen.
Abbildung 2.4 Typischer Verlauf eines kurzen atomaren Krieges
Das steile Wachstum der Verluste auf beiden Seiten ist besonders beeindruckend. Der Verlauf der Verlustkurven ist ähnlich, wenn auch bei anderer Wahl der Parameter die Werte stark schwanken. Wenn zum Beispiel A im Intervall [0, t1] alle seine Fernlenkgeschoße verschießt und B noch über solche verfügt, dann kann der Angegriffene dem Angreifer Verluste zufügen, ohne sie jedoch selbst erleiden zu müssen. Dieser Fall hat aber sicher in der Praxis keine Bedeutung.
Ein Modell, das die beidseitige Aufrüstung als den Frieden sichernd darstellt, widerspricht den vielfältigen Bemühen um Abrüstung und Weltfrieden und bleibt auch in Mathematikerkreisen sicher nicht unwidersprochen. Thomas F. Mayer benutzt die Annahmen des Modells von Intiligator und Brito, um deren Schlußfolgerungen selbst zu widerlegen6. Er bietet verschiedene Interpretationsmöglichkeiten des gegebenen Modells an.
Das I-B-Modell gibt sicher nicht alle Gründe für den Ausbruch eines Krieges an. Nicht nur die Überlegenheit eines Staates verleitet ihn, eine Kriegshandlung einzuleiten. Technische Gebrechen könnten zu einem zufälligen, nicht gewollten Krieg führen. Mangelnde Information und Kommunikation lassen die feindlichen Seiten die Kontrolle über die folgenden Ereignisse verlieren. Solche Zufälle sind gleich wahrscheinlich bei hohem oder niedrigem Rüstungsstand, also bedeutet ein riesiges Waffenarsenal keinen Schutz vor Kriegsausbruch.
Das provozierende Ergebnis des I-B-Modells resultiert aus der Annahme, daß beiderseitige Abschreckung gleichbedeutend mit Frieden ist. So kommen wir ja auch zu dem überraschenden und unwahrscheinlichen Schluß, daß bei vollständiger Waffenlosigkeit beide Staaten einander angreifen. Eine Welt ohne Waffen wäre also eine Welt im Krieg. Die Formeln für Abschreckung beziehungsweise Angriff sind ja so entstanden, daß mit einer gewissen Anzahl an Verlusten am Ende des Schagaustausches gerechnet wird und entsprechende Schranken festgelegt werden. In der Hoffnung, nicht mehr als eine minimale inakzeptable Anzahl an Verlusten zu erleiden, greift also ein nur schwach bewaffneter Staat einen anderen schwach bewaffneten Staat an; denn seine Verluste halten sich in Grenzen. Aber hat er auch etwas zu gewinnen, und nicht nur einfach wenig zu verlieren? Es gibt keine Bedingung für Erfolg oder Sieg im I-B-Modell. Weiters werden die Langzeitschäden atomarer Fernlenkwaffen nicht berücksichtigt, vor denen alle Staaten offensichtlich Angst haben. Die Zerstörungen, die Atomwaffen ausrichten, wachsen sicher nicht linear mit der Anzahl und bleiben wahrscheinlich auch nicht auf ein einzelnes betroffenes Land beschränkt.
Mayer gelangt mit geringfüfig modifizierten Änderungen der Annahmen des I-B-Modells zu grundverschiedenen Ergebnissen. Eigentlich sind alle diese Ergebnisse nicht richtig, weil die Annahmen zu wenig wirklichkeitsnahe sind. Durch diese mathematische Beschäftigung mit dem Modell wird der Schluß von Intriligator und Brito relativiert.
Die Differentialgleichungen des Modells seien weiterhin (2.1) bis (2.4). Lediglich die Bedingung des Angriffs soll modifiziert werden. Ein Staat greift dann den anderen an, wenn er hofft, am Ende der Auseinandersetzung mehr Raketengeschoße als der andere zu besitzen, und zwar um mindestens einen Überschuß q mehr. Nehmen wir zunächst an, der Angreifer sei A.
(2.40) |
Wir kennen die Werte von ma(t1+t2) und mb(t1+t2) aus den Formeln (2.13) und (2.14) und können sie einsetzen. Dadurch erhalten wir wieder eine Ungleichung, die wir als Teilgebiet der Waffenebene (ma0, mb0) interpretieren können.
(2.41) |
In diesem Fall wird A angreifen, wenn B höchstens so viele Waffen besitzt, als die Formel (2.41) beschreibt. Es ist das Gebiet der Waffenebene unterhalb der Geraden "A greift an". Andererseits wird A von B abgeschreckt, wenn es berechnet, daß ihm nach den Kampfhandlungen ein Waffenüberschuß bleibt, der kleiner als ein Mindestüberschuß pa ist.
(2.42) |
(2.43) |
(2.44) |
Die Gerade "B schreckt ab" liegt parallel zu "A greift an" und oberhalb jener Geraden. Das Gebiet der Waffenebene, in dem A abgeschreckt wird, liegt darüber. Beide Geraden schneiden die mb0-Achse unterhalb des Ursprungs.
Im zweiten Fall ist B der Angreifer, und wir suchen die entsprechenden Geraden des Angriffs und der Abschreckung. Auch der Staat B gibt sich ein Mindestmaß eines erhofften Raketenüberschusses vor. Diesmal erhalten wir die Werte von ma(t1+t2) und mb(t1+t2) aus den Formeln (2.29) und (2.30).
(2.45) |
(2.46) |
(2.47) |
(2.48) |
(2.49) |
Die Gerade "B greift an" (2.47) liegt parallel und oberhalb der Geraden "A schreckt ab" (2.49), denn sie haben den gleichen Anstieg, und der Schnittpunkt mit der mb0-Achse, der bei beiden Geraden positiv ist, ist bei der "B greift an"-Geraden größer, weil ja qb größer als pb ist.
Hier zeigt sich schon der wesentliche Unterschied zu den Angriffs- und Abschreckungsgeraden des I-B-Modells. Wie die graphische Umsetzung der Ungleichungen aussieht, hängt davon ab, ob der Anstieg von (2.41) größer oder kleiner als der von (2.47) ist.
Wenn der Anstieg der Geraden "A greift an" größer ist als der Anstieg von "B greift an", so schneiden sie sich und bilden ein Gebiet des gegenseitigen Angriffs, das nach oben unbeschränkt ist. Die Geraden "B schreckt ab" und "A schreckt ab" schneiden einander ebenfalls und bilden ein Gebiet der gegenseitigen Abschreckung, das um den Ursprung liegt. Die Situation ist in der Abbildung 2.5 dargestellt. Die Bedingung, daß die Geraden einander schneiden, ist folgende:
(2.50) |
Wenn der Anstieg von "A greift an" kleiner ist als der Anstieg von "B greift an", dann schneiden die Geraden einander nicht. In der Formel (2.50) dreht sich das ">"-Zeichen zu einem "£"-Zeichen um. Es gibt ein Gebiet der gegenseitigen Abschreckung, das um die Mediane liegt, der Friede bleibt also erhalten, wenn beide Staaten ungefähr gleich viele Waffen besitzen. Ist das numerische Gleichgewicht stark verschoben, so greift der stärkere Staat den schwächeren an. Das Gebiet des gegenseitigen Angriffs fehlt jedoch unter diesen Voraussetzungen. Die Abbildung 2.6 veranschaulicht die Situation.
Abbildung 2.5 Gebiete des Angriffs und der Abschreckung nach Mayer
Das interessante an diesem alternativen Modell ist die Tatsache, daß es mit den gleichen Differentialgleichungen, aber verschiedenen Angriffs- und Abschreckbedingungen zu einem genau entgegengesetzten Ergebnis kommt, besonders in dem Fall, den die Abbildung 2.5 beschreibt. Im Gegensatz zu Intriligator und Brito zeigt Mayer, daß mit etwas anderen Annahmen das Modell selbst zu einem anderen Resultat führt. Wir sehen also, daß beidseitiges Aufrüsten nicht unbedingt zu Frieden durch gegenseitige Abschreckung führt, sondern auch zum Ausbruch eines Krieges führen kann.
Abbildung 2.6 Gebiete des Angriffs und der Abschreckung nach Mayer
Die Annahme, daß ein Krieg günstig für die Seite entschieden ist, die am Ende mehr Waffen besitzt, ist nicht unbedingt die menschlichste. Es wäre eine Kriegsführung denkbar, die die ganze Bevölkerung opfert, um einige Raketen mehr zu behalten. Der Aspekt der menschlichen Verluste ist aus dem Kriegsgeschen nicht wegzudenken. In diesem zweiten Alternativmodell von Mayer geht die Vorstellung eines Sieges dahin, viel weniger Verluste als der Gegner zu erleiden.
Im ersten Fall betrachten wir wieder A als den Angreifer und verwenden die Lösungen ca(t1+t2) und cb(t1+t2) aus den Formeln (2.15) und (2.16). Der Angreifer möchte, daß der Gegner weit mehr Verluste erleidet als er selbst. Er betrachtet die Differenz der Verluste und greift nur an, wenn sie größer als eine Mindestanzahl sa ist. Ist diese Differenz jedoch kleiner als eine Zahl ra, so verzichtet A auf seinen Angriff. Wir setzen die Zahl ra als positive Größe voraus, weil A auf jeden Fall weniger Verluste als sein Feind hinnehmen will. So erhalten wir die folgenden Formeln:
(2.51) |
(2.52) |
(2.53) |
(2.54) |
(2.55) |
Wie wir sehen, sind die Geraden "A greift an" nach Formel (2.53) und "B schreckt ab" nach Formel (2.55) parallel, wobei die zweite über der ersten liegt. Die Schnittpunkte mit der mb0-Achse sind negativ.
Wenn B der Angreifer ist, so erhalten wir ähnliche Formeln für Angriff und Abschreckung, müssen aber darauf achten, ca(t1+t2) und cb(t1+t2) aus (2.31) und (2.32) zu verwenden.
(2.56) |
(2.57) |
(2.58) |
(2.59) |
(2.60) |
Die Geraden "B greift an" und "A schreckt ab", die wir aus den Ungleichungen (2.57) und (2.60) durch ein "="-Zeichen erhalten, sind parallel und schneiden die mb0-Achse oberhalb des Ursprungs, wobei die erste über der zweiten liegt. Jetzt kommt es wieder darauf an, ob der Anstieg in der Formel (2.53) größer oder kleiner ist als der in (2.57). Wenn das der Fall ist, so ist die graphische Situation genauso wie in der Abbildung 2.5, und es gilt die Ungleichung (2.61)
Andernfalls sieht die Lage wie in Abbildung 2.6 aus.
(2.61) |
Der Vergleich zwischen dem Modell von Richardson und dem von Intriligator und Brito zeigt uns einige Gemeinsamkeiten. Beide Modelle sind Systeme von linearen Differentialgleichungen, und wenn wir das I-B-Modell als ein Modell von acht Gleichungen auffassen, von denen jeweils vier die Anfangsbedingungen für die anderen vier bestimmen, so haben beide Differentialgleichungssysteme konstante Koeffizienten. Wesentlich dabei ist, daß die wirklich wichtigen Differentialgleichungen die bezüglich der Anzahl der vorhandenen Waffen sind. Die Differentialgleichungen im I-B-Modell, die die Verluste beschreiben, sind eigentlich nur Fomeln, wie sich diese Verluste aus den abgeschossenen Raketen durch Integration ergeben.
Der Unterschied zwischen den beiden Differentialgleichungssystemen liegt darin, was sie beschreiben. Richardson stellt den Rüstungswettlauf abhängig vom vorhandenen Rüstungspotential dar. Die Trajektorien der Auf- oder Abrüstung ergeben sich direkt aus den Modellgleichungen. Intriligator und Brito beschreiben, wie die vorhandenen Waffen eingesetzt werden, und sie bieten dieses Modell als Planungsgrundlage für die Rüstung an; daraus können die Staaten ihr Wettrüsten planen.
Im Modell von Richardson können wir die mathematische Stabilität, die Stabilität nach Ljapunov, eines möglichen stationären Punktes untersuchen. Die Stabilität und Attraktivität bezieht sich immer auf das Verhalten der Lösung, wenn die Zeit t ins Unendliche läuft. Stabilität wird mit Frieden gleichgesetzt, Instabilität mit Krieg. Im I-B-Modell wird zwar nicht direkt von Stabilität gesprochen, aber das Gebiet der gegenseitigen Abschreckung in der Waffenebene ist ein Gebiet des Friedens, es herrscht hier das, was ein Nichtmathematiker rein gefühlsmäßig als instabiles Gleichgewicht bezeichnen würde. Die alternativen Modelle von Mayer bieten mit den selben Differentialgleichungen und anderen Angriffs- und Abschreckbedingungen Interpretationsmöglichkeiten, in denen ein Laie das Gebiet der gegenseitigen Abschreckung als stabiles Gleichgewicht bezeichnen könnte.
Kurzfassung und Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Das Modell von Richardson
2. Das Modell von Intriligator und Brito
3. Lineare Erweiterungen des Richardson-Modells
4. Nichtlineare Erweiterungen des Richardsonmodells
5. Nichtlineare Erweiterung des Intriligator-Brito-Modells
Literaturverzeichnis
©1990 Elisabeth Müller