5. Nichtlineare Erweiterung des Intriligator-Brito-Modells

5.1 Die Modellgleichungen

Das Modell von Intriligator und Brito wurde von Thomas F. Mayer kritisiert und abgewandelt. Jene Überlegungen, die die Differentialgleichungen von Intriligator und Brito verwenden und sich nur in der Wahl der Angriffs- und Abschreckungskriterien unterscheiden, habe ich schon im zweiten Kapitel beschrieben. Es handelt sich dort um lineare Betrachtungen. Dann ging Mayer einen Schritt weiter: er bringt eine Nichtlinearität in das Modell ein und verändert es dadurch.

Mayer kritisiert am I-B-Modell, daß es die kumulative Wirkung von atomaren Waffen unterschätzt. Diese Wirkung bringt er in die Modellgleichungen ein, wodurch sie nichtlinear werden. Auch die entsprechenden Angriffskriterien werden nichtlinear. Damit ist das Modell wesentlich verändert. Das Kapitel könnte auch die Überschrift tragen: Das Modell von Mayer.

Das I-B-Modell beschreibt den Schlagabtausch eines kurzen atomaren Krieges. Dabei geht es von der Voraussetzung aus, daß die Rate der Zerstörung fremder Raketengeschoße proportional zu der Rate der eigenen gestarteten Raketen ist. Im nichtlinearen Modell ist sie proportional zur Anzahl der noch nicht zerstörten feindlichen Raketen und einer Potenz der eigenen gestarteten Raketen. Ebenso hängt die Anzahl der Opfer nichtlinear von der Anzahl der noch Lebenden und einer Potenz der auf sie gerichteten und gestarteten Raketen ab.

Die Bezeichnungen mögen die selben sein wie in Kapitel 2; die Anzahl der Raketen ist ma beziehungsweise mb, die Anzahl der Opfer ca und cb, die überlebende Bevölkerung ga und gb die Abschußraten a und b, die Trefferwahrscheinlichkeit fa, fb, va und vb. Ein Staat eröffnet das Feuer auf die Raketenstützpunkte des anderen. Zu einem Zeitpunkt t1 beginnt der angegriffene Staat, auf den Feind zu schießen, und auch der Angreifer zielt auf die feindliche Bevölkerung. Dieses Umschalten wird durch a' und b' modelliert. Die Gleichungen haben die Gestalt:

(5.1)
(5.2)
(5.3)
(5.4)
(5.5)
(5.6)

Es gibt die Möglichkeiten, daß entweder zuerst das Land A angreift oder das Land B. Die Werte von a, b, a' und b' sind in diesen Fällen genau dieselben wie schon im zweiten Kapitel in den Abbildungen 2.1 und 2.2 beschrieben.

5.2 Der Ausbruch des Krieges

Wie im zweiten Kapitel geht es auch jetzt wieder darum, die Gebiete der Abschreckung und des Angriffs in der Waffenebene (ma0, mb0) zu finden. Dazu brauchen wir vier verschiedene Überlegungen. Vom Standpunkt des Landes A aus ist es interessant, wieviele Waffen ma0 sie brauchen, um B angreifen zu können, und wieviele sie brauchen, um B von einem möglichen Angriff abzuschrecken. Im ersten Fall ist A der Angreifer, im zweiten Fall wird B als Angreifer betrachtet. Die dazu symmetrischen Fragen kann sich auch B stellen und Ungleichungen für die Anzahl seiner Raketen aufstellen. Das Kriterium für "genügend" Waffen ist die Anzahl der Todesopfer am Ende des Schlagabtausches.

 
A plant
B plant
A greift an

A greift an

B schreckt ab
B greift an

A schreckt ab

B greift an
Abbildung 5.1 Ermittlung der Abschreckung und des Angriffs

Um die Ungleichungen von ma0 und mb0 zu erhalten, müssen wir zunächst die Differentialgleichungen lösen. Hierbei sind zwei Fälle zu unterscheiden, nämlich ob A oder B der Angreifer ist. Es gibt also zwei Systeme von Differentialgleichungen, die zu lösen sind. Erst anschließend können die Ungleichungen aufgestellt werden.

Wenn A angreift, beschießt es im Intervall [0, t1]; nur feindliche Raketen, keine Städte. Im Intervall [t1, t1 + t2] schießen beide Völker aufeinander, und die Rate der Todesopfer steigt.

(5.7)
(5.8)
(5.9)
(5.10)

(5.11)
(5.12)
(5.13)
(5.14)

Die Anfangswerte von ma und mb im zweiten Intervall sind die Endwerte der Lösungen des ersten Intervalls. So erhalten wir schließlich als Lösungen:

(5.15)
(5.16)
(5.17)
(5.18)

Die Lösungen von ca und cb werden in die für den jeweiligen Staat interessanten Ungleichungen (5.19) und (5.20) eingesetzt, dann werden die Ungleichungen nach ma0 beziehungsweise nach mb0 aufgelöst. (5.21) ist die Bedingung dafür, daß A genügend Raketen zur Verfügung hat um relativ gefahrlos angreifen zu können. (5.22) bis (5.24) sind die Erklärungen für die neu eingeführten Funktionen in (5.21). (5.25) ist die Bedingung dafür, daß B abschreckt.

(5.19)
(5.20)
(5.21)
(5.22)
(5.23)
(5.24)
(5.25)
(5.26)
(5.27)

Die Werte und ca' sind wie in Kapitel 2 die minimale inakzeptable und die maximale akzeptable Anzahl an Opfern des Staates A.

Die Ungleichungen sind von relativ komplizierter Struktur, jedenfalls sind sie nicht linear. In der rechten Seite von (5.21) kommt mb0 mit einem konstanten Exponenten in einem logarithmischen Ausdruck vor. Wenn wie das Ungleichheitszeichen durch ein Gleichheitszeichen ersetzen, erhalten wir eine Kurve in der (ma0 ,mb0)-Ebene. Diese Kurve wächst in irgendeiner Weise exponentiell. Im Bereich rechts von dieser Kurve ist A stark genug, anzugreifen. Durch (5.25) wird ebenfalls eine in etwa exponentiell anwachsende Kurve beschrieben. Oberhalb von dieser Kurve ist B so stark, daß es A abschreckt.

Wenn B angreift, so ist das Problem symmetrisch zum ersten. Denken wir uns in allen Formeln (5.7) bis (5.27) die Buchstaben a und b sowohl in den Indizes als auch in den Abschußraten vertauscht, so erhalten wir die Bedingungen, ob B wirklich angreift oder durch A abgeschreckt wird.

Die Kurven in der (ma0, mb0)-Ebene sind auch symmetrisch zu den ersten, also an der ersten Mediane gespiegelt. Das bedeutet, daß A rechts von einer logarithmisch anwachsenden Kurve den Angreifer B abschreckt, B aber oberhalb einer ähnlichen Kurve stark genug ist, um wirklich anzugreifen. Es gibt zwei prinzipielle Möglichkeiten, wie die Kurven liegen können.


Abbildung 5.2 Gebiete des Angriffs und der Abschreckung

Der erste Fall ist, daß die Kurven einander schneiden. So entstehen drei interessante Gebiete in der Ebene. Um den Ursprung liegt ein kleines Gebiet, in dem beide Staaten noch zuwenig Waffen haben, um einander abzuschrecken. Hier fühlen sich beide jedoch stark genug, den Gegner anzugreifen, denn er könnte mit seiner geringen Rüstung weit weniger als die maximale akzeptable Anzahl an Menschen töten. Entlang der Mediane gibt es einen Bereich, in dem beide Staaten gleichstark sind, und dieses Verhältnis schreckt sie vor einem möglichen Angriff ab. Interessanterweise gibt es noch ein zweites Gebiet, in dem beide Staaten angreifen wollen, und zwar wenn beide eine große Menge an Rüstung besitzen. Mit sovielen Waffen fühlen sie sich sicher genug, bei einem Erstschlag die Raketen des Gegners stark genug reduzieren zu können. Die große Macht, die ein solches Potential anbietet, verlockt dazu, sie auszunützen.


Abbildung 5.3 Gebiet des Angriffs

Die zweite Möglichkeit ist viel erschreckender. Die Kurven schneiden einander nicht, und so entsteht um die erste Mediane ein breites, sich immer weiter verbreiterndes Gebiet, in dem sich beide Staaten stark genug fühlen, einander anzugreifen. Es gibt überdies keinen einzigen Punkt der Ebene, an dem nicht der eine oder der andere Staat an den Angriff denkt. Ein Gebiet der gegenseitigen Abschreckung gibt es nicht.

Wovon hängt es ab, ob die Abbildung 5.2 oder 5.3 der Realität eher entspricht? Wie es eigentlich auch zu erwarten war, natürlich von den Werten von , , ca' und cb'. Sind sie klein, also wollen die Strategieplaner wenig Menschen opfern, so tritt der Fall von Abbildung 5.2 ein. Bei vernünftiger Rüstungspolitik können sich ma0 und mb0 im sicheren Gebiet der gegenseitigen Abschreckung bewegen und ein Gleichgewicht der Kräfte erhalten.

5.3 Implemention und Ergebnisse

Im HYBSYS-Model betrachte ich nur den Fall, daß A der Angreifer ist. Das geschieht ohne Beschränkung der Allgemeinheit, weil es nur eine Frage der Namensgebung ist.

MODEL MAYER
|
| MODELLPARAMETER
|
| ANFANGSWAFFENPOTENTIAL MA0, MB0
| ANFANGSBEVOELKERUNG GA0, GB0
| ANFANGSANZAHL DER VERLUSTE CA0, CB0
| ABSCHUSSRATEN A, B
| TREFFSICHERHEIT (FEINDLICHE RAKETEN) FA
| TREFFSICHERHEIT (FEINDLICHE STAEDTE) VA, VB
| NICHTLINEARITAET G, L
|
PAR MA0=100,MB0=100,GA0=10000000,GB0=10000000,CA0=0,CB0=0
PAR A=0.5,B=0.5,FA=0.1,VA=0.1,VB=0.1,G=1.3,L=1.3
|
| MODELLVARIABLE
|
| WAFFENPOTENTIAL MA, MB
| BEVOELKERUNGSZAHL GA, GB
| VERLUSTE CA, CB
| STRATEGIEVARIABLE A1, AINVERS
| HILFSVARIABLE AMULT, BMULT, MAMULT, MBMULT
| MALOG, MBLOG, MAHOCHG, MAHOCHL, MBHOBHL
|
VAR MA,MB,CA,CB,AINVERS,A1
VAR AMULT,BMULT,MAMULT,MBMULT,MALOG,MBLOG
VAR MAHOCHG,MAHOCHL,MBHOCHL
|
| FUNKTION, DIE DAS UMSCHALTEN DER STRATEGIEVARIABLEN BEWIRKT
|
FUN REAL: AS(REAL)=(0,4.999,5,10;1,1,0,0)
|
EQU
|
| GLEICHUNGEN
|
| BELEGEN DER STRATEGIEVARIABLEN
|
A1=RFUN1(AS,T)
AINVERS=SUM(1,-A1)
|
| HILFSRECHNUNGEN
|
GA=SUM(GA0,-CA)
GB=SUM(GB0,-CB)
MALOG=LOG(A*MA)
MBLOG=LOG(B*MB)
MAHOCHG=EXP(G*MALOG)
MAHOCHL=EXP(L*MALOG)
MBHOCHL=EXP(L*MBLOG)
AMULT=MULT(FA*A1,MAHOCHG)
BMULT=MULT(AINVERS,B*MB)
MAMULT=MULT(VA*AINVERS,GB,MAHOCHL)
MBMULT=MULT(VB*AINVERS,GA,MBHOCHL)
|
| DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
|
MA=INTEG(MA0,-A*MA)
MB=INTEG(MB0,-AMULT,-BMULT)
CA=INTEG(CA0,MBMULT)
CB=INTEG(CB0,MAMULT)
|
END
|
TEND=10
|
END

Die Kurven, die von dem Modell erzeugt werden ähneln denen des Intriligator-Brito-Modells stark. Im Prinzip hat sich ja an der Tatsache nichts verändert, daß ein Staat zuerst auf die Raketen des anderen, dann auf dessen Bevölkerung schießt und von ihm gleichfalls beschossen wird. Die Art des Kurven ist exponentiell.


Abbildung 5.4 Verlauf eine kurzen atomaren Krieges

Die Kurven aus Abbildung 5.5 ähneln denen aus Abbildung 2.4 des I-B-Modells. Die Nichtlinearität der Differentialgleichung und die damit verbundenen Lösungen mit einer Exponentialfunktion im Exponenten einer Exponentialfunktion wirken sich jedoch durch einen steileren Anstieg aus. Zur näheren Untersuchung bietet HYBSYS die Möglichkeit, die Parameter zu variieren, sodaß wir die Auswirkung verschiedener Parameterwerte auf einer Graphik sehen können.


Abbildung 5.5 Auswirkung von g auf mb

In der Abbildung 5.5 sehen wir verschiedene Verläufe der Raketenanzahl des angegriffenen Staates. Die Art jeder Kurve ist die gleiche; zuerst wird der Vorrat durch den feindlichen Beschuß vermindert, dann durch den eigenen Gebrauch. Mit wachsendem g sinken die Vorräte an Waffen im ersten Intervall stärker ab. Der Einfluß des Beschusses ist stärker, wenn der Exponent größer ist. Das war die Absicht von Mayer, die Verluste des Materials stärker von der Anzahl der feindlichen Raketen abhängig zu machen.


Abbildung 5.6 Einfluß von l auf ca

Die Änderungen in den Kurven von ca und cb durch die ßnderung von l sind beindruckend.


Abbildung 5.7 Einfluß von l auf cb

5.4 Vergleich der Modelle

Thomas F. Mayer kritisiert und verändert das Modell von Intriligator und Brito auf zweierlei Arten. Die erste ist die lineare Art, in der er die Differentialgleichungen beibehält und nur die Bedingung für Abschreckung und Angriff verändert. Dabei bleiben die Bedingungen jedoch lineare Ausdrücke in ma0 und mb0, die Gebiete der Waffenebene werden durch Gerade bestimmt. Die Ergebnisse dieser linearen Abwandlungen habe ich im zweiten Kapitel beschrieben. In diesem Kapitel wird die nichtlineare Abwandlung des I-B-Modells beschrieben. Die Bedingungen für Abschreckung und Angriff bleiben gleich, zum Beispiel ist die Ungleichung (2.18) identisch mit (5.20), aber die Modellgleichungen selbst sind verändert. Die Gleichungen von Mayer weisen eine Nichtlinearität auf. Dadurch werden die Lösungen von einfachen Exponentialfunktionen zu Exponentialfunktionen von Exponentialfunktionen, und die Kurven in der Waffenebene sind dementsprechend gekrümmt.

Die Topologie der Ebene ist eine völlig andere. Es gibt nicht wie im I-B-Modell ein Gebiet der gegenseitigen Abschreckung bei großen Rüstungsvorräten (Abbildung 2.3), sondern entweder gibt es gar kein Gebiet der Abschreckung (Abbildung 5.3) oder es gibt eines, das nur klein ist, dafür aber zwei Gebiete des Angriffs: bei extrem kleinen und bei extrem großen Rüstungsvorräten (Abbildung 5.2).

Mayer bestätigt mit seinen Ergebnissen natürlich nur, was er selbst glaubt: nämlich, daß es kein "Gleichgewicht des Schreckens" gibt, sondern daß Aufrüstung eher zum Krieg als zum Frieden führt. Er möchte vor allem den Rüstungsbefürwortern zeigen, daß ihre Vorstellungen von der Wirklichkeit eben nur Annahmen sind; daß die Bedingungen für den Ausbruch eines Krieges sich leicht gegen ähnliche austauschen lassen, die das Ergebnis völlig verändern. In Wirklichkeit erfolgen Kriege nicht nur deshalb, weil der Stand der Rüstung ein bestimmtes Niveau erreicht hat. In den meisten Fällen stehen menschliche Emotionen, Fehler und Eitelkeiten am Anfang einer Auseinandersetzung.

Ich glaube nicht, daß Mayer von seinen Modellannahmen absolut überzeugt ist, wie sein Spiel mit verschiedenen Modelländerungen beweist. Er möchte damit klarmachen, daß auch andere Modellannahmen nicht kritiklos übernommen werden dürfen. Die althergebrachte Vorstellung von einem glücklichen Sieger, der mit dem militärischen Sieg etwas gewinnt, hat in der Zeit des zig-fachen Overkills endgültig ausgespielt.


Kurzfassung und Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Das Modell von Richardson
2. Das Modell von Intriligator und Brito
3. Lineare Erweiterungen des Richardson-Modells
4. Nichtlineare Erweiterungen des Richardsonmodells
5. Nichtlineare Erweiterung des Intriligator-Brito-Modells
Literaturverzeichnis


©1990 Elisabeth Müller